Montag, 18. Mai 2009

Das Grundgesetz

An DIE ZEIT Leserbriefredaktion Pressehaus, Buceriusstraße 20095 Hamburg

Horst Dreier "60 Jahre und kein bißchen heilig" in Die ZEIT 20 vom 07.05.2009

Zunächst meine Zustimmung:
Das Grundgesetz ist keine Bibel, das politische Leben kein Gottesdienst, der Verfassungsexeget keine Hohepriester! Es wäre ja eine Profanisierung des Göttlichen, wollte man das Grundgesetz in den Rang einer göttlichen Offenbarung erheben. Das kann kein Gläubiger zulassen - und diejenigen, die keinen Zugang zu einer Glaubenshaltung haben, noch weniger.

Das Grundgesetz ist von Menschen für Menschen geschaffen worden mit dem Ziel, ihrem Zusammenleben eine bestimmte Ordnung zu geben. Es ist eine ganz irdische und sehr menschliche Einrichtung.
Nach seinen eigenen Worten ist es "in Verantwortung vor Gott und den Menschen" geschaffen worden. Es sind die Menschen, die diese Verantwortung erkennen und tragen wollen, nicht das Grundgesetz. Hinter dem Grundgesetz steht die umfassende Lebenswirklichkeit und schmerzvolle Erfahrung mehrerer Generationen mit dem Umgang mit ihrem Staat und mit den Menschen ihrer Umgebung. Die Verfasser des Grundgesetzes haben bewußt all diese Erfahrungen in die Beratungen eingebracht - das Grundgesetz ist das Fazit einer langen Leidenszeit mit vielfachen Verstrickungen. Deshalb ist das Grundgesetz keineswegs nur ein technisches Juristenwerk, nützlich und praktikabel - das ist es auch - aber zuvor ist es eine aufregende Sache deshalb, weil hier eine Verfassung nicht nur in Abgrenzung zur Obrigkeit oder zur Abwehr gegen Gefährdungen des Staates von außen entstanden ist, sondern auch in der weisen Erkenntnis der eigenen Verführbarkeit. Ich kenne keine andere Verfassung, die in dieser Weise aus eigenen Verfehlungen der Vergangenheit derart umfassende Konsequenzen gezogen hätte. Darin ist das Grundgesetz in seiner Art einmalig und wohl auch für manche Verfassungen nach ihm zum Vorbild geworden.
Sie sehen die Gefahr der Sakralisierung der Verfassung, namentlich des Satzes von der Menschenwürde. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade diesen Satz als "obersten Wert" des Grundgesetzes bezeichnet. Als ganz irdischer, weltlicher und profaner Grundsatz müßte er doch gelten in einer Welt die offensichtlich diesen Grundsatz immer wieder vergißt.
Was Kant angeht, halte ich mich an seinen "Beschluß" zur Kritik der praktischen Vernunft. Da spricht er von dem "gestirnten Himmel über mir, und dem moralischen Gesetz in mir". Er sagt dann: "... ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz." Aber das gilt nicht für das Gesetz, sondern für die Menschen, die mit ihm umgehen oder von seinen Bestimmungen betroffen sind.
Ich sehe eine ganz andere "Gefahr" für das 60jährige Grundgesetz. Der ehrwürdige Bau, das altbewährte Kunstwerk ist zunehmend in Gefahr zum Steinbruch zu werden. Die schnelllebige Zeit unserer Tage verführt dazu, unbequeme Teile herauszubrechen und durch neue, angeblich aktuellere zu ersetzen. Die Verhandlungen über die Neuordnung der Finanzverfassung - Art. 1098 ff GG - sind mir ein Beispiel dafür. Am Ende gab es eine intensive Auseinandersetzung mit einer mühselig ausgehandelten Lösung, die eher das Ergebnis eines Machtschachers erschien als der Ansatz zu einer zukunftsfähigen Neukonstruktion.
Dabei war das Grundgesetz nie sakrosankt, wie Sie es andeuten. Von 1949 bis 2000 ist das Grundgesetz 48 Mal geändert worden - und seither noch viele Male mehr.
Mich beschäftigt die Frage, ob nicht interessierte Kreise eine Änderung des Grundgesetzes durchsetzen, ehe die Voraussetzungen dafür gegeben sind:
1. Es muß ein überzeugendes Fundament für eine neue Ordnung geben.
Dafür sehe ich zur Zeit keinen Ansatz. Die Vielfalt der Meinungen ist heute kaum zu übertreffen. Vielleicht klärt sich die Lage nach Überwindung der virtuellen und der realen Krise.
2. Es muß Aussicht dafür geben, daß die Verantwortlichen auf die Proportionen einer neuen Ordnung des Grundgesetzes einigen können. Ohne eine grundsätzliche Bereitschaft dazu ist jeder Ansatz verfehlt.
3. Ein Ausblick auf die Zukunft mit der Verbindung zu einer deutlich erkannten Verantwortung für die künftige Entwicklung muß vorliegen, ehe man an eine Neuordnung gehen kann. Diese Verantwortung müßte definiert werden.
4. Schließlich müssen Menschen da sein, die sich der Verantwortung für das Ganze bewusst sind und diese allen Einzelinteressen vorziehen.
Diese vier Voraussetzungen liegen zur Zeit nicht vor. Deshalb hoffe ich, daß es nicht zu einer Neuordnung des Grundgesetzes kommt.
Ich halte es in dieser Frage mit Frau Gesine Schwan, die zum Grundgesetz sagte, sie sehe nicht, daß wir jetzt eine Verfassungsdiskussion anfangen können. Es gehe nicht um die Qualität des Grundgesetzes, sondern darum, ob die Ostdeutschen an der Abstimmung über das Grundgesetz beteiligt werden. Doch das ist eine Frage "von vor zwanzig Jahren".
In diesem Sinne danke ich Ihnen, Herr Dreier, für Ihren Beitrag. Haben Sie mir doch auf diese Weise Gelegenheit gegeben, ein Plädoyer für das bestehende Grundgesetz zu halten und es etwas differenzierter zu betrachten als Sie.

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